Was ist der wichtigste Teil einer Geschichte? Die Figuren, genau. Alles steht und fällt mit den Charakteren. Sie treiben nicht nur den Plot voran, sie sind auch unsere Haupt-Identifikations-Werkzeuge. Bei einem guten Ensemble verzeihen wir sogar Widersprüche und Handlungslücken im Plot. Und wer will schon, dass die Leser/Zuschauer seine Figuren sofort wieder vergessen, weil sie einfach nicht wiedererkennbar sind? Dann doch lieber einen Sherlock Holmes erschaffen, der seit mehr als 100 Jahren von einer Geschichte und von einem Medium in das nächste verfrachtet wird und den wir dennoch sofort erkennen!
Aber: Wieso erkennen wir Sherlock Holmes sofort? Mit einer ähnlichen Frage hat sich der Medienwissenschaftler Jens Eder befasst. Er hat ein Modell entwickelt, mit dem sich untersuchen lässt, welche Eigenschaften eine Figur einzigartig und unvergesslich machen. Das Modell nennt sich „die Uhr der Figur“. Es ist zwar eigentlich nur zur Analyse gedacht, doch mit ein paar kleinen Drehs taugt es auch wunderbar zum Charakterdesign.
- Was ist überhaupt „eine Figur“?
- Die „Uhr der Figur“ nach Eder
- Die Uhr der Figur für Charakterdesign nutzen
- Warum sind wiedererkennbare Figuren wichtig?
Was ist überhaupt „eine Figur“?
Zunächst einmal: Was ist überhaupt eine „Figur“? Klar, jeder hat irgendeine vage Vorstellung davon, was Sherlock Holmes zu Sherlock Holmes macht oder Daenerys Targaryen zu Khaleesi (auch wenn das nach der letzten Staffel Game of Thrones wohl diskutabel ist). Dennoch erkennen wir Kult-Charaktere, wenn wir sie sehen oder hören. Wir denken: „Klar, das ist typisch Sherlock“. Mehr noch: Wir erkennen fiktionale Figuren sogar dann noch, wenn sie in ein anderes Medium verfrachtet werden, sagen wir, vom Buch zum Film, oder ihre eigene Storyworld verlassen.
Ein Crossover zwischen Sherlock und Game of Thrones? Wäre sicherlich seltsam, wäre aber zumindest insofern möglich, als dass wir Sherlock auch dann noch erkennen würden, wenn er durch Westeros wanderte. Jetzt, wo ich so darüber nachdenke, kann ich eigentlich kaum erwarten, dass Sherlock in der ersten Staffel GOT von Ned Stark engagiert wird und sagt: „Elementary, my dear Eddard!“ Kann darüber vielleicht mal jemand Fanfiction veröffentlichen?
Dass wir fiktionale Figuren auch dann noch identifizieren können, wenn sie aus dem Kontext gerissen werden, ist nicht selbstverständlich. Was macht Sherlock Holmes zu Sherlock Holmes? Jeder wird jetzt sicherlich zumindest ein paar Schlagworte im Kopf haben. Jägermütze, Lupe, Intelligenz, Schlussfolgerung, Chemie, Verbrechen. Watson? Was, wenn wir eine dieser Eigenschaften weglassen? Ist Sherlock Holmes noch Sherlock Holmes ohne seine komische Mütze? Und wieso erkennen wir die Figur auch noch in der Serie Sherlock, wo sie, anstatt wie sonst im späten 19. Jahrhundert, in unserer modernen Welt zu sehen ist?
Mit einer ähnlichen Frage hat sich auch Jens Eder beschäftigt.
Nach Eder sind Figuren:
„wiedererkennbare fiktive Wesen mit Bewusstseinsfähigkeit […], genauer: mit der Fähigkeit zu objektbezogenen mentalen Vorgängen.“
Für diese Wiedererkennbarkeit müssen Figuren entsprechend ausgefeilt konzipiert sein und gewisse Merkmale erfüllen. Damit meine ich nicht nur Charaktereigenschaften.
Die „Uhr der Figur“ nach Eder
Hier kommt die „Uhr der Figur“ ins Spiel. Diese teilt die unterscheidbaren Merkmale von Figuren in vier Kategorien: Figur als fiktives Wesen, Figur als Artefakt, Figur als Symbol und Figur als Symptom. Da man sich darunter nicht so recht etwas vorstellen kann (sorry, Herr Eder, ansonsten mag ich ihr Konzept), möchte ich diese Kategorien gleich mal ein wenig griffiger umbenennen:
- Person
- Darstellung
- Symbol
- Thematik.
Das Modell stammt eigentlich aus der Filmwissenschaft. Es lässt sich jedoch auch wunderbar auf andere Texte anwenden.
Eder selbst fasst die Thematik übrigens unter den Punkt Symptom. Ich halte dies jedoch nicht für sinnvoll, da dadurch narrative Elemente mit dem zugrundeliegenden Konzept vermischt werden.
Person
Dass ein Charakter in einer fiktiven Welt ebenso Personeneigenschaften besitzen sollte, wie ein echter Mensch, dürfte am einleuchtendsten von allen vier Punkten sein. Was für eine Persönlichkeit hat er oder sie? Wie sieht er oder sie aus? Wie ist das Verhältnis zu allen anderen Figuren in der Geschichte? Mit wem ist er oder sie befreundet? Hier geht es tatsächlich darum, die Figur zu behandeln wie einen echten Menschen, ihre Vorlieben, Abneigungen und Wünsche zu kennen, ihre Haarfarbe, Schuhgröße und Lebensgeschichte.
Sherlock Holmes als Person: Außergewöhnlich intelligent; gebildet und aus einer wohlsituierten Familie; wenn er möchte, kann er sehr gut mit Menschen umgehen, aber er möchte es nicht immer; ungewöhnliche Obsessionen; beschäftigt sich verstörend gern mit Mord; sportlich; Kleidung: Langer Mantel, Jägerhut, Karos, very british; Gimmick: Lupe; Personen: Watson als bester Freund und Assistent, Mycroft als Bruder, Moriarty als Feind.
Darstellung
Bei diesem Punkt geht es darum, wie die Figur in ihrer fiktiven Welt dargestellt wird. Und nein, das ist nicht nur für visuelle Medien relevant. Da es am Film aber am einfachsten zu erläutern ist, bleiben wir zunächst bei diesem Beispiel.
Im Film gehören zur Darstellung etwa Kameraeinstellung, Mise-en-scène (wie das Bild aufgebaut ist), Belichtung und Ton. Ist unsere Figur ein Film-Noir-Held, wird er vermutlich überwiegend im Halbdunkeln zu sehen sein. Ist unsere Figur ein Disney-Bösewicht, spielt wahrscheinlich bei ihrem Erscheinen stets ominöse Musik (tatsächlich macht das nicht nur Disney so offensichtlich). Wichtig ist jedoch auch, wann wie welche Informationen über die Figur preisgegeben werden. Gibt es Rückblenden? Erzählen andere etwas über sie? Verrät sie selbst ihre Geheimnisse?
Auch im Buch verbinden Autoren bestimmte Darstellungsformen mit bestimmten Figuren. Als erstes ist hier natürlich die Erzählperspektive zu nennen. Wechselt die Narration plötzlich vom allwissenden Erzähler zur Ich-Perspektive, möchte uns der Autor damit etwas sagen (zumindest sollte er das wollen). Auch bestimmte Sprachstile (und zwar des Erzählers) können hier eine Rolle spielen. Aber noch viel wichtiger: Auch im Buch gibt es ein Setting, eine „Mise-en-scène“. In welcher Umgebung hält sich die Figur auf? Wie wird diese beschrieben? Werden gewisse Gegenstände mit ihr verknüpft? Verbirgt sich dahinter eine Metapher?
Gleiches gilt etwa für Videospiele. Neben den bereits genannten Darstellungsformen kommt hier jedoch noch die Spielemechanik und der Einsatz von (oder Mangel an) Cut-Scenes hinzu. Bei Videospielen ist außerdem die jeweilige Perspektive auf die Figur besonders ausschlaggebend.
Sherlock Holmes typische Darstellung: Z.B. Labore und wissenschaftliche Umgebung, Tatorte, Baker Street. Oft düsterer Tonfall/düstere Umgebung.
Symbol
Nun kommen wir langsam zum Zuckerguss. Die Figur, wie sie als Person beschrieben wird und wie sie obendrein in der Geschichte dargestellt wird, symbolisiert meistens sehr viel mehr, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Unser ketterauchender Noir-Schnüffler im Halbschatten symbolisiert womöglich den Nihilismus seiner Gesellschaft. Eine kleine Grille namens Jiminy Cricket ist vielleicht das personifizierte Gewissen von Pinocchio.
Es geht hier also um die Funktion, die die Figur in der Geschichte erfüllt. Diese kann allegorisch oder rein narrativ sein. Im Idealfall ist sie beides.
Auch hier wandele ich Eder geringfügig ab. Er fasst die narrative Funktion unter den Punkt „Darstellung“. Auch dies finde ich wenig logisch, da die narrative Funktion viel stärker mit der Symbolik verknüpft ist als mit der reinen Darstellungsweise einer Figur.
Sherlock Holmes als Symbol: Seine primäre Funktion ist es, dem Leser Hinweise auf ein Rätsel zu geben, das der Leser selbst zu lösen versucht, bevor es Sherlock Holmes tut (was aber i.d. Regel nicht geht, weil die Geschichte sicherstellen will, dass Holmes klüger erscheint als die Leser); Symbol: Die Macht der Wissenschaft und des menschlichen Verstandes.
Thematik
Nun zum großen Ganzen: Was ist das eigentliche Thema der Geschichte? Inwiefern greift die jeweilige Figur dieses Thema auf? Wirklich ausgezeichnete Texte verweben alle Teile, jede Figur, jeden Gegenstand, jeden Ort, jedes Wort, zu einer übergeordneten Gesamtthematik.
Jens Eder nennt diesen Punkt „Symptom“. Es geht ihm darum, dass jede Geschichte das Symptom von gesellschaftlichen Umständen ist, von den Ansichten der Schöpfer und der Leser sowie ihrem historischen Kontext. Nicht ohne Grund bringt jede Epoche bestimmte Genres hervor, die den Geist ihrer Zeit aufgreifen.
Nehmen wir Godzilla als Beispiel: Das Monster Godzilla stammt aus den 1950er Jahren und ist eine Reaktion auf/ ein Symptom der Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki.
Aber halt, was, wenn die Geschichte, die ich schreibe oder lese reines Entertainment sein soll? Wenn ich gar nicht vorhabe, mich mit irgendeiner tiefergreifenden Thematik zu befassen? Ob es Autoren gefällt oder nicht, es ist praktisch unmöglich Geschichten zu schreiben, die keine Moral vermitteln. Wir alle sind Produkte unserer Zeit, unserer Umgebung und Vergangenheit, unserer Ansichten und der Ansichten der Menschen um uns herum. Jeder Autor bringt diese Einflüsse in seine Texte ein, ob er/sie es nun will, oder nicht. Und jedes Publikum wird etwas in die Texte hineinlesen, ob uns das nun gefällt, oder nicht. Das sollte jedem bewusst sein.
Sherlock Holmes Thematik: Das variiert von Geschichte zu Geschichte. Wie bei den meisten Detektiv-Geschichten geht es jedoch in der Regel um die Fragen: „Was bringt Menschen dazu, zu tun, was sie tun?“ und: „lässt sich wirklich alles durch Wissenschaft erforschen?“. Was war die dahinterstehende gesellschaftliche Entwicklung, für die Sherlock Holmes symptomatisch war? Es waren die ersten Schritte der forensischen Analyse.
Die Uhr der Figur für Charakterdesign nutzen
Soweit zur Analyse, aber wie kann ich das Modell nutzen, um meine Charaktere zu entwickeln? Nun, effektiv auf dieselbe Art, wie man die Figuren auch analysieren würde. Allerdings muss man die einzelnen Punkte ein wenig neu arrangieren, damit man einen kohärenten Charakter kreiert. Dazu ist es sinnvoll, sich vom großen Ganzen in die Details zu arbeiten. Die Reihenfolge ist dann:
- Thematik
- Symbol
- Person
- Darstellung.
Warum probieren wir es nicht mal an einem Beispiel aus?
Thematik
Sagen wir, wir schreiben eine Geschichte über den Einfluss des Internets auf unser soziales Leben. Symptom: Klar, die Digitalisierung ist hier der leitende Einflussfaktor.
Symbol
Unsere Figur ist der Protagonist. Als solcher sollte er natürlich das zentrale Thema auf irgendeine Weise repräsentieren. Er könnte sich zum Beispiel vom einsamen Jungen ohne Perspektive in jemanden mit Aussichten verwandeln. Was ist seine Funktion? Als Protagonist ist er unsere Tür in die Storyworld. Er hat aber auch Einfluss auf den Plot und die Entwicklung anderer Charaktere. Die Figur kann natürlich auch noch mehr Funktionen erfüllen (siehe Sherlock Holmes).
Person
An dieser Stelle tun wir das, was die meisten Schreib-Selbsthilfebücher unter Charakter-Design verstehen: Wir geben unserem Charakter eine Persönlichkeit, ein Aussehen, ein Umfeld und eine Vergangenheit. WICHTIG: Diese müssen natürlich mit den vorigen beiden Punkten, Thematik und Symbol, zusammenhängen. Ach ja, er braucht wohl auch einen Namen. Nennen wir unseren Protagonisten einfach mal Bob.
Fragen wir uns also, wie Bob aussieht (und welche Details über sein Aussehen wir verraten, weil sie etwas über ihn aussagen), wie alt er ist und welche Charaktereigenschaften er hat.
Abhängig von der Geschichte, die wir konkret erzählen, können wir ihm nun eine beliebig detaillierte Vergangenheit und Beziehungen zu anderen Figuren geben. Letztere sind absolut essentiell, da jede Figur einer Geschichte nur in Abhängigkeit von anderen Figuren existiert. Aus Balance-Gründen sollte es in dieser Story etwa unbedingt einen anderen Charakter geben, der die negativen Seiten des Internets auf unsere Beziehungen thematisiert.
Kern von Bob sind aber seine eigene Motivation und eventuelle Charakterschwächen, die er besiegen muss. Um es in Drehbuchterminologie auszudrücken: Er braucht „Want“ und „Need“. Dazu wird’s irgendwann noch mal einen eigenen Post geben.
Außerdem wichtig: Unser Charakter entwickelt sich. Sein Aussehen und seine Persönlichkeit werden sich also ändern. Daher ist es sinnvoll, eine Art Vorher-Nachher-Bob zu entwerfen.
Natürlich ist dieser Teil des Charakterdesigns in Wirklichkeit viel umfangreicher und könnte nun noch beliebig lang werden. Da das aber nicht der zentrale Punkt dieses Artikels ist, belasse ich es jetzt bei diesen paar Infos.
Darstellung
Jetzt haben wir Bob und seine Funktion, aber wie stellen wir ihn dar? Gehen wir mal davon aus, wir schreiben ein Buch. Dann brauchen wir als erstes eine Erzählperspektive für Bob. Da es hier um Beziehungen geht, würde sich beispielsweise eine Ich-Perspektive oder eine personale Erzählsituation anbieten, wenn uns interessiert, wie Bob denkt und sich verändert. Aber das kommt natürlich auf die Geschichte an. Ich entscheide mich hier mal für eine personale Erzählsituation. Denkt daran: Viele Storys wechseln die Erzählperspektive je nach Rolle und Wichtigkeit der Charaktere (Beispiel: Margaret Atwoods Alias Grace).
Als nächstes müssten wir entscheiden, in welchen Stadien wir Informationen über Bob preisgeben. Gibt es Rückblenden? Deuten wir nur an?
Wie sieht nun seine Umgebung aus? Gibt es symbolische Gegenstände darin? Welche Rolle spielt der Computer (Thema ist Internet!)? Außerdem nicht vergessen: Ein Mensch hat fünf Sinne. Können wir mit Bob einen bestimmten Geruch, einen Klang, ein Gefühl verbinden? Schmeckt sein Frühstück aus irgendeinem Grund immer bitterer? Kann sich dies im Laufe der Geschichte ändern, um sein Wachstum zu signalisieren? Was für eine Sprache verwenden wir, um Bob zu beschreiben? Verwenden oder meiden wir Fremdwörter? Sind unsere Sätze voller Schwung oder so schleppend wie Bobs Leben? Bei der Darstellung könnt ihr eurer Fantasie freien Lauf lassen. Aber vergesst vielleicht nicht die Leser dabei…
Warum sind wiedererkennbare Figuren wichtig?
Nun wissen wir zwar, wie wir wiedererkennbare Figuren mit der „Uhr der Figur“ analysieren und entwickeln, aber wozu brauchen wir das?
Zum einen wirken gut durchdachte Figuren natürlich dreidimensionaler und bleiben dadurch bei den Lesern eher hängen. Eine thematisch kohärente Geschichte hinterlässt in der Regel einen größeren Eindruck als eine oberflächliche – und ist außerdem meistens auch klarer strukturiert.
Doch die Vorteile von gutem, wiedererkennbarem Figurendesign gehen darüber hinaus: Ihr könnt solche Figuren einfach in ein anderes Medium verfrachten oder in eine andere Geschichte und eure Fans folgen euch trotzdem.
Ihr könnt eure gut beschriebenen und durchdachten Figuren aber auch nutzen, um euren Plot voranzubringen und Hinweise zu platzieren. Ich meine damit nicht nur Hinweise auf das Thema der Story, sondern ganz wortwörtlich Hinweise. Und wie viel spannender wird eure Geschichte, wenn ihr erst Erwartungen an das Verhalten eurer Figuren erzeugt und diese sich dann plötzlich anders verhalten?
In beiden Fällen könnt ihr euch etwas bei J.K. Rowling abgucken. Sie nutzt die Beschreibung ihrer Charaktere in Harry Potter beispielsweise, um von Verdächtigen abzulenken (etwa, indem Beschreibungen oder auch Prophezeiungen auf mehrere Figuren zutreffen können). Und (SPOILER WARNUNG!) wer fand es nicht großartig als Schul-Verlierer Neville auf einmal zum coolen Actionhelden mutiert ist? Und was für Harry Potter funktioniert hat….