Warum das Fernsehen in Krisenzeiten retro wird

Nostalgie in Serien

Jeder, der die Titelmusik von Stranger Things sofort erkennt, weiß dass die 80er Jahre zurück sind. Dabei ist der Netflix-Retro-Hit bei Weitem nicht das einzige Anzeichen dafür, dass die Medien aktuell zurück in die Zukunft reisen. Nostalgie findet sich überall, ob in der Neuauflage von Stephen Kings Es, in der extrem 90er-Jahre-lastigen Story von Captain Marvel oder den etlichen Reboots von alten Serien auf Netflix. Ich sage nur: Full House, Gilmore Girls und Sabrina. Es scheint also etwas dran zu sein an der Nostalgie. Mediengrößen wie Netflix oder Marvel würden wohl kaum auf einen Trend aufspringen, wenn sich damit kein Geld verdienen ließe. Sprich, wenn die Kunden nicht nach Nostalgie verlangen würden.

Ich frage mich daher: Woher kommt dieser plötzliche allgegenwärtige Anflug von Nostalgie? Warum liegt sie gerade jetzt so sehr im Trend? Und warum lieben wir es eigentlich, in der Vergangenheit zu schwelgen?

Schauen wir uns am besten erstmal an, was Nostalgie eigentlich ist. 

Nostalgie in Stranger Things
Der Retro-Trend ist allgegenwärtig, nicht nur bei Stranger Things (Quelle: Netflix)

Was bedeutet Nostalgie?

Der Begriff Nostalgie hat seinen Ursprung im neulateinischen „nostalgia“, was Heimweh bedeutet, und den griechischen Wörtern „nóstos“, was „Rückkehr in die Heimat“ heißt und „álgos“, dem Schmerz. Nostalgie bedeutet daher so viel wie „Schmerz verursacht durch eine alte Wunde“ und ist eng mit dem Gefühl Heimweh verknüpft.

Psychologisch gesehen ist Nostalgie ein ziemlich komplexer und vor allem auch häufig auftretender Prozess. Wenn wir nostalgisch sind, versuchen wir uns eine idealisierte Vorstellung von der Vergangenheit zu erschaffen. 

Nostalgie bedeutet also nicht nur in der Vergangenheit zu schwelgen, sondern in einer bestimmten Version der Vergangenheit: Nämlich in ihrer verbesserten und aufgehübschten Version. Realität interessiert uns dabei eher weniger.

Doch warum werden wir überhaupt nostalgisch?

Warum sind wir nostalgisch?

Wir verknüpfen Erinnerungen an die Vergangenheit automatisch mit unserer eigenen Biografie. Diejenigen, die die Anschläge vom elften September bewusst miterlebt haben, werden sich nicht nur daran erinnern, was passiert ist, sondern auch, was sie gerade getan haben, als die Flugzeuge ins World-Trade-Center geflogen sind. An solche furchtbaren Dinge erinnern wir uns aber nicht gern. Viele Studien haben bereits belegt, dass wir uns tendenziell eher an die positiven Seiten der Vergangenheit erinnern. Damit bleibt das Gute hängen, das Schlechte filtern wir heraus, außer, es ist einprägsam oder wichtig. Dadurch wird unser Bild von der Vergangenheit irgendwann verzerrt. Alles, was einmal war, erscheint so viel besser als das, was jetzt ist. 

Wenn uns dann etwas an die Vergangenheit erinnert, besteht eine sehr große Wahrscheinlichkeit, dass wir an einen Ort zurückkehren, den wir in guter (nicht böser) Erinnerung halten.

Die meisten kennen wohl das Phänomen, dass sie ein bestimmter Geruch, ein Lied oder ein Gesprächsfetzen urplötzlich an eine bestimmte Szene ihres Lebens erinnert. Plätzchenbacken mit Mama, der erste Kuss, die Abschlussfeier mit den besten Freunden. Genau dasselbe passiert, wenn wir uns alte Serien ansehen. 

Wenn uns Serien wie Stranger Things an eine Zeit erinnern, in der wir noch Kinder waren (vorausgesetzt, man war in den 80ern schon geboren), denken wir automatisch an unsere eigene Kindheit zurück. „Ich kann mich noch an diese furchtbaren Frisuren erinnern!“, „und weißt du noch, dein Onkel hat genau dasselbe Auto gefahren!“, sagen wir dann. Was wir aber eigentlich meinen ist: Damals war das Leben irgendwie noch einfacher.

Nostalgie ist daher Selbstschutz. Wir schreiben unser eigenes Lebensnarrativ und erdenken uns unsere Jugendtage, wie wir sie gern gehabt hätten. So, wie sie unserer Meinung nach hätten sein sollen. Das ist ja das Großartige am menschlichen Gedächtnis, wir können unsere eigene Geschichte neu erfinden, als unser persönlicher Autor und Regisseur. Wie das fertige Produkt hinterher in unserem Kopf aussieht, hat viel mit gesellschaftlichen Idealbildern und Wunschvorstellungen zu tun. 

Meistens bezieht sich Nostalgie auf unsere Kindheit und Jugend. Das gilt vor allem für nostalgische Medienprodukte. Wer einmal darauf achtet, wird feststellen, dass die meisten Netflix-Nostalgieserien vor etwa 15 bis 30 Jahren zum ersten Mal ausgestrahlt wurden. Das ist genau der Zeitraum der Kindheit der Netflix-Hauptzielgruppe, die heute zwischen 20 und 40 Jahre alt ist.

Dass die Kindheit ein so beliebter Zeitraum für nostalgische Verklärung ist, liegt vor allem daran, dass „damals noch alles einfacher“ schien. Im Erwachsenenleben gibt es Rechnungen zu bezahlen, permanent Leistung zu erbringen und konstante Balanceakte zwischen Arbeit und Privatleben zu bewältigen. In der Kindheit, zumindest in der gesellschaftlich idealisierten Kindheit, war das noch anders. Daher konstruieren wir in der Erinnerung besonders unsere Kindheit als romantisierten, stabilen Ort permanenter Leichtigkeit. Die Zeit eben, in der die Welt noch in Ordnung war und in der wir uns um nichts Sorgen machen mussten.

Deshalb neigen wir auch besonders in schwierigen Zeiten zur Nostalgie. Wenn im realen Leben alles den Bach runterzugehen scheint, erinnern wir uns gern daran, dass es auch mal eine Zeit gab, in der alles viel, viel besser war. Zumindest in unserer Fantasie.

Ist das ein neues Phänomen?

Ist der ganze Nostalgietrend ein neues Phänomen? Natürlich nicht. Besonders im Fernsehen und in der Werbung liegt Nostalgie seit Jahrzehnten im Trend. Werbung suggeriert uns mit Verweisen auf geliebte Kindheitserinnerungen: Wenn du dieses Produkt kaufst, dann kann alles wieder so sein wie damals. Das Fernsehen versucht sich durch ständige Wiederholungen alter Serien Fans zu sichern.

Mehr noch: Serien sind an sich inhärent nostalgisch. Immerhin schalten wir bei der nächsten Folge ein, weil wir mit den vorausgegangenen Folgen nostalgische Gefühle verbinden. Das kann so weit gehen, dass wir Serien auch weitergucken, obwohl wir sie lange nicht mehr mögen. Einfach nur, weil wir die Serie früher einmal gut fanden. Wir schauen sie aus reiner Nostalgie zu Ende. Ich hab‘ dich im Auge, Game of Thrones. 

Und dann gibt es natürlich noch die Neuauflagen alter Filme und Serien. Ein besonders beliebtes Konzept, gerade in jüngster Zeit. Früher habe ich mich immer über meine Mutter geärgert, die bei jedem neuen Film sagte: „Den kenne ich schon!“ Heute habe ich selbst leider bereits lange genug gelebt, um zu begreifen, dass alles schon mal da war. Wir leben im Zeitalter der Remakes und Fortsetzungen. Gerade gibt es die Stephen-King-Klassiker in neuem Gewand zu sehen, dann kommt schon die 100. Version von Spiderman um die Ecke geschwungen. Netflix rebootet eine Serie aus den 90ern und frühen 2000ern nach der nächsten. Erst Arrested Development, dann Full Hous und schließlich Gilmore Girls sowie viele, viele weitere. Verständlich ist diese Reboot-Welle schon, denn bei der Neuauflage alter Filme und Serien ist das Publikum praktisch eingebaut. Wer Fan der alten Version war, wird vermutlich auch mal in die neue reinschauen. 


Aber ernsthaft, warum gerade Netflix? Warum treibt gerade der Inbegriff des modernen Fernsehzeitalters den Nostalgie-Trend voran? 

Warum gerade Netflix?

Das Phänomen nennt sich Remediation und es tritt immer dann auf, wenn ein Medium durch ein neueres ersetzt wird. In diesem Fall trifft es das Fernsehen. Netflix hat ein veraltetes Konzept weiterentwickelt, indem es Serien und Filme online zur Verfügung stellt, on demand, mit einem Programm, das sich die Nutzer selber zusammenstellen können. Für viele werden damit ihr Binge-Watching-Träume wahr. Andere schreckt neue Technologie aber eher ab. 

Genau da kommt Nostalgie ins Spiel. Wenn ein neues Medium altbekannte Filme und Serien zeigt, wirkt es weniger abschreckend. Denn plötzlich ist dem Nutzer nicht mehr alles fremd. Die nostalgische Serie erinnert ihn oder sie an die gute alte Fernsehzeit. Die Hemmschwelle, sich mit dem neuen Medium auseinanderzusetzen, sinkt. Noch effektiver ist dieser Trick, wenn das neue Medium Serien oder Filme mit eingebauter Fanbase zeigt. Fans werden sich durch keine Hürde abhalten lassen, die neuste Installation eines geliebten Franchises anzusehen. Deshalb zeigt zum Beispiel auch der neue Streamingsender von Disney, Dinsey+, die Star-Wars-Serie The Mandalorian exklusiv.

Ist Nostalgie ein Problem?

Nostalgie hilft uns also, mit einer neuen unsichereren Welt besser umzugehen. Ist Nostalgie also eine rein positive Sache? Eher nicht. Denn gerade Großunternehmen setzen Nostalgie für ihre eigenen Zwecke ein. 

Netflix, Disney und Coca-Cola triggern unsere nostalgischen Gefühle bestimmt nicht aus reiner Nächstenliebe oder weil sie uns durch diese schwere Zeit helfen wollen. Ihr Ziel ist es, Geld zu verdienen. Nostalgie dient hierzu in mehrfacher Hinsicht: Zum einen werden nostalgischen Fans immer neue Produkte angedreht, zum anderen führt Nostalgie dazu, dass wir Dinge weniger hinterfragen. Nicht vergessen: Nostalgie bedeutet, dass wir uns gerade nicht kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Wir wollen nicht wissen, wie die Produktionsbedingungen unseres liebsten Kinderfilms in Wirklichkeit aussahen oder dass unser Lieblings-Jugendbuchautor eigentlich ein ziemlich rassistisches Arschloch war. Das würde unsere Erinnerung an die Kindheit trüben. Und wer will das schon!? Das bedeutet aber auch, dass Unternehmen und Organisationen unsere Nostalgie dazu nutzen können, uns Dinge aufzutischen, ohne, dass wir sie hinterfragen. Wenn wir die neue Star-Wars-Volkswagen-Werbung kritisieren, kritisieren wir damit immerhin nicht nur Volkswagen als problematisches Unternehmen, sondern auch unser geliebtes Star-Wars-Franchise. Dadurch, dass in nostalgischen Serien wie Stranger Things ein beschönigtes Bild der Vergangenheit gezeigt wird, setzen wir uns auch nicht mit den Problemen dieser Epoche, wie etwa Sexismus oder Rassismus, auseinander. Irgendwann gehen die Leute dann hin und wünschen sich die vermeintlich bessere Vergangenheit zurück, ohne darüber nachzudenken, dass sie damit nicht nur all das Gute heraufbeschwören, sondern auch all die Rückständigkeit und die Probleme, die wir eigentlich schon hinter uns gelassen hatten.

Das ist natürlich der Extremfall. Und ich möchte niemandem seine Nostalgie madig machen. Zumindest nicht allzu sehr. Manchmal kann es sehr schön und auch sehr heilsam sein, in angenehmen Erinnerungen zu schwelgen. Das Einzige, was ich im Grunde sagen möchte, ist: Nimm nicht alles einfach so hin, ohne es zu hinterfragen. Nicht mal, wenn es im Fernsehen läuft.

Warum das Fernsehen in Krisenzeiten retro wird

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