Was haben der geborene Anführer, der Rebell und der Magier gemein? Sie sind alle Beispiele von Charakter-Archetypen.
Archetypen, Urformen von Figuren, finden sich in allen Arten von Texten, in Büchern, Filmen oder antiken Mythen. Erstmals wurde das Phänomen vom Psychologen Carl Jung beschrieben. Er analysierte unter anderem Sagen und literarische Werke und versuchte darin die Essens häufig auftretender Figuren-Schemata zu finden. Laut Jung gibt es im kollektiven Unbewussten angesiedelte Urbilder menschlicher Verhaltensmuster, Archetypen eben. Sie sind jedoch nicht mit sogenannten „Tropes[1]“, also immer wiederkehrenden Story-Elementen, oder Klischees zu verwechseln.
John Truby schreibt in „The Anatomy of Story“:
„Archetypen sind fundamentale psychologische Muster, die sich in einer Person zeigen; sie sind Rollen, die eine Person möglicherweise in der Gesellschaft spielt, grundlegende Formen der Interaktion mit anderen.“
Es handelt sich also um Persönlichkeitstypen, keine Erzählmuster. Darüber, inwiefern Archetypen tatsächlich universell und „naturgegeben“ sind, wie manche behaupten, lässt sich sicherlich streiten. Jedoch haben sich zumindest in der Literatur inzwischen einige Haupt-Archetypen etabliert. Sie alle bringen unterschiedliche Stärken und Schwächen mit.
Die Charakter-Archetypen, die in fiktionalen Texten am häufigsten zu finden sind:
Die Namen variieren von Quelle zu Quelle. Vater und Mutter können auch König und Königin sein, der Krieger wird manchmal als Held bezeichnet, der Clown als Künstler. Die grundlegenden Eigenschaften bleiben jedoch gleich. Und natürlich sind die Figuren-Modelle der Archetypen geschlechtsneutral.
Sehen wir uns die einzelnen Archetypen einmal genauer an.
Vater
Väter oder Könige (und nein, sie müssen nicht zwangsläufig männlich sein), sind die geborenen Anführer. Sie navigieren Konflikte mit Weisheit und Voraussicht. Sie sind streng aber fair. Oder zumindest sollten sie das sein. Nicht selten endet der Charakterbogen dieser Figuren in autoritären oder zumindest von Machthunger getriebenen Szenarien. Die zugrundeliegende Frage lautet dabei oft: Wie geht ein Mensch mit Macht um? Und ist es wahr, dass Macht stets korrumpiert?
- Stärken: Führungsstärke, Charisma, Voraussicht, Macht
- Schwächen: Kontrollzwang, repressiv, in Extremfällen Machthunger und Narzissmus
- Motivation: Kontrolle und Macht.
- Beispiele: König Arthur, Rick in Casablanca, Miranda Priestly in der Teufel trägt Prada
Mutter
Mütter oder Königinnen (und ja, sie können auch männliche Figuren sein) behüten und beschützen andere. Sie sind selbstlos und bleiben oft im Hintergrund. Schweben ihre Liebsten in Gefahr, können sie unerwartete Stärke zeigen und auch dem mächtigsten Feind gefährlich werden.
- Stärken: Fördernd, selbstlos, großzügig
- Schwächen: Überfürsorglich, emotional manipulativ, lassen sich ausnutzen und täuschen
- Motivation: Andere beschützen und helfen.
- Beispiele: Stella in Endstation Sehnsucht, Cersei in Game of Thrones, Inara in Firefly, Samweis in der Herr der Ringe
Kind
Das Kind ist unschuldig, naiv und hat noch viel zu lernen. Der Charakterbogen dieser Figuren handelt in der Regel davon, wortwörtlich und metaphorisch erwachsen zu werden. Das Leben wird ihnen den einen oder anderen Stein in den Weg legen, doch sie lernen schnell und verlieren dabei selten ihren kindlichen Optimismus. Typische Szenarien sind etwa: Unschuld vom Lande zieht in die große Stadt und muss akzeptieren, dass nicht alles eitel Sonnenschein ist (Zootopia). Der idealistische Lehrling wird zum coolen Meister (Star Wars).
- Stärken: Optimismus, Enthusiasmus, Fantasie
- Schwächen: Naiv, unerfahren, Mangel an Fähigkeiten
- Motivation: Lernen, glücklich werden und Wahrheit finden.
- Beispiele: Judy Hopps in Zootopia, Luke Sywalker in Star Wars, Dorothy in der Zauberer von Oz; fast jeder zweite Disney-Charakter
Waise
Waisen müssen keine Waisen im eigentlichen Sinne sein (obwohl sie dies häufig sind). Sie finden sich jedoch zu irgendeinem Punkt in ihrem Leben einsam und allein wieder. Den Rest ihres Lebens, oder zumindest bis zur Resolution, versuchen sie, dieses Trauma zu überwinden. Ihr größter Wunsch ist es, eine Verbindung zu anderen und zur Welt um sie herum zu finden. Häufig fällt der Archetyp Waise mit der Trope „der/die Auserwählte“ zusammen.
- Stärken: Überlebenskünstler, Empathie, werden oft von anderen bewundert
- Schwächen: Abhängig von der Meinung anderer, mangelndes Selbstvertrauen
- Motivation: Verstanden und akzeptiert zu werden und Verbindung zu anderen zu finden.
- Beispiele: Harry Potter, Oliver Twist, Anna in Frozen
Mentor
Yoda, Mister Miyagi, Gandalf – kein echtes Mega-Franchise kommt ohne Mentor-Figur aus. Sie fungieren als Lehrer und leiten andere Charaktere durch unbekanntes Terrain. Auf ihren Rat kann man bauen (aber sich nicht immer verlassen). Sie wissen, wie der Hase läuft. Deshalb sind sie auch extrem gut darin, Exposition zu liefern.
Mentoren-Figuren überraschen oft mit ihren Fähigkeiten, die sie gern einmal verbergen – denn sie haben es selten nötig, damit zu prahlen. Es besteht eine ziemlich hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie im Laufe der Geschichte sterben, und ihre Schüler dadurch in eine schwere Krise stürzen.
- Stärken: Weisheit, Gelassenheit, Erfahrung
- Schwächen: Selbstherrlichkeit, übervorsichtig, wollen, dass Schüler wie sie handeln anstatt ihren eigenen Weg zu finden
- Motivation: Die nächste Generation auf den richtigen Weg führen und Wissen weitergeben.
- Beispiel: Yoda in Star Wars, Gandalf in Herr der Ringe, Mr. Miyagi in Karate Kid, Minerva McGonagall in Harry Potter
Krieger
Der Krieger tut das Richtige. Zumindest versucht er das. Er oder sie hat immer einen Plan und stürmt voran, um den Feind mit unerschütterlichem Willen und enormer Kompetenz zu besiegen. Ganz Recht, viele Krieger-Archetypen sind die Helden der Geschichte.
Vielleicht müssen sie auf ihrem Weg zum Ziel Hürden überwinden oder geraten in eine moralische Krise (vor allem, wenn ihr Mentor stirbt). Doch am Ende des Tages überwinden sie alle Widrigkeiten. Oder sind Teil einer Tragödie.
- Stärken: Mentale und/oder physische Stärke, Überzeugung, Mut, Kompetenz
- Schwächen: Ego, lebt nach dem Motto „friss oder stirb“, unterschätzt Gegner
- Motivation: Die Welt retten und sich beweisen.
- Beispiele: Gimli in der Herr der Ringe, Terminator, Thor – ach, eigentlich so ziemlich jeder Marvel-Charakter.
Rebell
Der Rebell schert sich nicht darum, was von ihm oder ihr erwartet wird. Rebellen lehnen sich gegen das System auf, leben nach ihren eigenen Regeln und stehen konstant auf Kriegsfuß mit dem Status quo. Nicht alle Rebellen sind Führungspersönlichkeiten. Oft stehen sie jedoch trotzdem (unfreiwillig) an der Spitze einer Widerstandsbewegung.
Ach, Jess aus Gilmore Girls, du hast so vielen Mädchen das Herz gebrochen.
- Stärken: Mut, clever, gibt niemals auf, inspiriert andere
- Schwächen: Mangel an Macht und Status, bietet oft keine bessere Alternative zum bestehenden System
- Motivation: Die Welt verändern.
- Beispiele: Katniss Everdeen in die Tribute von Panem, Prometheus, Robin Hood
Magier
Magier sind besessen von Wissen, entweder in Bezug auf ein bestimmtes Fach oder auch die Welt im Ganzen. Sie verstehen und kontrollieren die verborgenen Kräfte von Magie oder Wissenschaft. Magier bezwingen ihre Gegner durch schieren Hirnschmalz (habt ihr ein Bild vor Augen?). Sie müssen zwar nicht tatsächlich Magier sein, ihre Fähigkeiten sind jedoch für andere mindestens genauso verblüffend wie echte Magie. Sie suchen nach Erleuchtung, sind im Gegensatz zum Mentor jedoch auch auf Ruhm aus.
John Truby nennt als Unterform des Magiers den Trickster. Dieser Charakter ist vor allem geschickt mit Worten und ein geübter Lügner. Trickster schweben üblicherweise irgendwo zwischen Antiheld und Bösewicht.
- Stärken: Intelligenz, Wissen, Strategie
- Schwächen: Überheblichkeit, Egoismus, Streben nach Ruhm, zwingen unter Umständen anderen ihren Willen auf.
- Motivation: Chaos in Ordnung verwandeln und Macht gewinnen.
- Beispiele Magier: Merlin, Gandalf in Herr der Ringe, Sherlock Holmes;
- Beispiele Trickster: Loki in Thor, Gatsby in Great Gatsby, Joker in Batman
Clown
Der Clown ist der geborene Comic-Relief-Charakter. Jeder mag ihn oder sie. Clowns sind das Herz der Party und nehmen das Leben nicht allzu schwer. Oft verblüffen sie jedoch mit tiefgründigen Einsichtigen, die ihnen niemand zugetraut hätte. Sie können als warnendes Beispiel dienen, seine Zeit nicht zu verschwenden, oder als inspirierendes Vorbild dafür, die guten Seiten des Lebens zu genießen.
- Stärken: Liebenswert, fröhlich, Querdenker
- Schwächen: Verantwortungslos, potentiell antriebslos
- Motivation: Spaß zu haben.
- Beispiele: Megan in Bridesmaids, Tigger in Winnie Puh, Peter Quill in Guardians of the Galaxy
Schöpfer
Das einzige, was Schöpfercharaktere wirklich interessiert, ist ihre Kreation. Oft sind sie Erfinder oder Künstler. Sie sind überaus motiviert und streben bei ihren Schöpfungen nach Perfektion. Häufig erkennen sie Potentiale, wo sie ansonsten niemand sieht und haben außergewöhnliche Visionen.
- Stärken: Antrieb, kreatives Genie, Visionen
- Schwächen: Übertriebener Perfektionismus bis hin zur Selbstzerstörung oder der Zerstörung anderer
- Motivation: Spuren zu hinterlassen.
- Beispiele: Blanche in Endstation Sehnsucht, Remy von Ratatouille, Walter White in Breaking Bad
Liebender
Diese Figuren würden alles für die Liebe tun. Liebende sind aufopferungsvoll, unterstützend und manchmal auch besessen. Sie können einen positiven Einfluss auf ihr Umfeld haben. Sie können es aber auch erdrücken oder sich selbst in einer Beziehung verlieren. Liebende sind die Hauptfiguren in großen Liebesgeschichten oder furchtbaren Tragödien.
- Stärken: Verständnisvoll, leidenschaftlich, aufopferungsvoll
- Schwächen: Opfert die Identität, Persönlichkeit oder das Leben
- Motivation: Die innige Beziehung zu einer anderen Person.
- Beispiel: Romeo und Julia, Harley Quinn in Batman
Verführer
Der Verführer hat etwas zu bieten, doch das hat seinen Preis. Egal ob Sex, Geld, den Traumjob oder Macht, dieses Angebot sieht einfach zu gut aus, um wahr zu sein – und ist es in der Regel auch. Verführer treten ungemein charmant und charismatisch auf. Sie sind Meister der Manipulation. Allzu oft stürzen sie dabei alle um sie herum ins Unglück. Doch nicht ungleich der Sirenen in der Odyssee, kann kaum jemand ihrem Ruf widerstehen.
- Stärken: Charme, Charisma, Schönheit
- Schwächen: Kontrollierend, ohne Moral, ohne Loyalität
- Motivation: Macht, Kontrolle und Ruhm.
- Beispiele: Mephisto in Faust, Hannibal Lecter in das Schweigen der Lämmer, die meisten „Femme Fatales“
Kombination von Charakter-Archetypen
Archetypen sollten niemandem als Schablone für Charaktere dienen. Sie sind, sowohl für die Analyse als auch das Schreiben, bloße Anhaltspunkte. Außerdem entsprechen die wenigsten literarischen Figuren nur einem Archetyp. Üblicher ist die Kombination aus mehreren Charakter-Archetypen, bei denen gewisse Eigenschaften abgewandelt wurden, um die Figur einmalig zu machen.
In der Kombination und Abwandlung der Eigenschaften der Grundstrukturen gibt es schier unendliche Möglichkeiten. Besonders interessant sind Charaktere dann, wenn sie zunächst wie ein Archetyp erscheinen, sich später jedoch als ein anderer herausstellen. Wer liebt nicht den Clown, der zum unerschrockenen Krieger mutiert?
Die größte Falle beim Schreiben von Charakteren, die zumindest teilweise auf Archetypen basieren, ist das Klischee. Wie oft sind Mentorfiguren schon gestorben, bloß, um später als Geist zu erscheinen? Wie oft waren Waisen schon der einzig wahre Auserwählte? Autoren, die Charakter-Archetypen gut kennen, können jedoch ihr Wissen nutzen, um mit den Erwartungen der Leser zu spielen. So erschaffen sie neue, spannende und einmalige Geschichten.
[1] Ich verwende hier den englischen Ausdruck Trope, denn im Deutschen hat sich die Bedeutung des Parallelbegriffs Trope noch nicht offiziell auf „wiederkehrende Erzählelemente“ ausgeweitet.