7. Juni 2020 Alex

Fandom: Gibt es ein Rezept für Hype?

Hand aufs Herz: Wer würde nicht gern eine Geschichte schreiben, die eine so enorme Fangemeinde hat wie Star Wars? Doch es kann wohl niemand voraussagen, wie eine Story oder ein Franchise später bei den Leserinnen und Lesern ankommt. 

Oder etwa doch?

Zahlreiche Geisteswissenschaftler haben sich mit der Frage beschäftigt, wie Fandom (Fangemeinschaft) funktioniert. Allen voran mein liebster Profi-Fanboy, und ganz nebenher MIT-Professor, Henry Jenkins. Jenkins erforscht Fandom. Er geht der Frage nach, wie Fangemeinschaften funktionieren und wie sie entstehen. Außerdem hat er Kriterien gefunden, die Texte erfüllen müssen, damit ein riesen Hype überhaupt erst entstehen kann. 

Man könnte es auch ein Rezept für Fandom nennen.

Was ist Fandom?

Nein, Fandom besteht nicht nur aus Leuten, die in ihrer Freizeit in Star-Wars-Kostümen herumlaufen (wobei nichts dagegen einzuwenden ist). Fangemeinschaften bestehen ganz allgemein aus Menschen, die ein gleiches Interesse teilen. Sei es an bestimmten Fernsehserien, Sportarten oder Bands. 

Nach Henry Jenkins sind Fangemeinschaften vor allem auch Wissensgemeinschaften. Fans konsumieren möglichst alle zu ihrem Fanobjekt gehörenden Medien und tauschen sich darüber mit anderen Fans aus. Sie teilen Theorien, gehen ungelösten Fragen nach und beraten miteinander, worauf ein Text zum Beispiel anspielt. Daher belohnt Fankultur diejenigen Fans, die besonders aktiv sind und viele Medienprodukte konsumieren.

Ihr ahnt es schon: Das wissen natürlich auch Medienunternehmen und nutzen die Mechanismen von Fankulturen schon lange dazu, möglichst viele Produkte eines Franchise zu vermarkten und damit Geld zu machen.

Nach Henry Jenkins ist Fankultur jedoch auch „collaborative culture“, also eine Kultur der Zusammenarbeit. Viele Fans produzieren eigene Texte und Medien über ihr Fanobjekt: Fanfiction, Fanart oder Filk Songs (Lieder über Kultobjekte). Diese beeinflussen immer stärker auch die „Originaltexte“. So stammen zahlreiche Elemente, die heutzutage zum Beispiel zum Sherlock-Holmes-Kanon gezählt werden, ursprünglich aus Fanfiction.

Die moderne Fankultur ist jedoch vor allem auch durch das Internet und seiner Möglichkeit, sich rasch auszutauschen, geprägt.

Was triggert Fandom?

Wer es also darauf anlegt, ein Kultobjekt mit zahlreichen Fans zu erschaffen, der sollte dafür sorgen, dass sein/ihr Text ein paar Kriterien erfüllt. 

Henry Jenkins sagt dazu: 

„new cultural works will have to provoke and reward collective meaning production through elaborate back stories, unresolved enigmas, excess information, and extratextual expansions of the program universe“.

Autoren müssen also darauf achten, Texte zu erschaffen, die Fans dazu bringen, Theorien und Informationen auszutauschen und ihnen ermöglichen, selbst auf der Originalgeschichte mit eigenen Werken aufbauen zu können. Doch was setzt das genau voraus?

Umberto Ecos Theorie zu Kulttexten

Der italienische Professor und Bestsellerautor Umberto Eco hat sich bereits vor Henry Jenkins mit der Frage befasst, was Kulttexte, wie etwa den Film Casablanca, ausmacht. Er kam zu dem Schluss, dass es eine vollständig entwickelte Welt braucht, die so detailliert ist, dass Fans daraus zitieren können, als gehöre sie zu ihrem realen Leben. Außerdem müsse diese Welt umfassend sein und so viele Informationen enthalten, dass ergebene Konsumente diese lernen, ihr Wissen immer mehr erweitern und letztlich meistern können. Weiterhin solle der Kulttext in mehrere Teile aufteilbar sein, damit es genüge, sich nur einzelne Aspekte zu merken und noch immer als Kenner zu gelten. 

Kulttexte sollten auf andere Texte anspielen, also intertextuell sein. Kultobjekte seien derart zitierfähig, da sie selbst zitierten. Sie nutzten außerdem Archetypen, Anspielungen und allerlei andere Referenzen auf andere Texte. Dadurch entstehe ein Gefühl des Déjà-vu. Positive Emotionen, die mit den anderen Texten verbunden würden, würden die Leser daher auch mit dem neuen Text verbinden. 

Und zu guter Letzt müsse ein Kulttext eine Vielzahl an Ideen enthalten, nicht nur ein Hauptthema. Auf diese Art spreche er zum einen eine große Bandbreite an unterschiedlichen Personen mit unterschiedlichen Vorlieben und Ansichten an, und biete zum anderen auch Diskussionsstoff.

Zusammengefasst sind also die Kriterien, die ein Kulttext laut Eco erfüllen muss:

  • Umfassende Storyworld
  • Großes Maß an Informationen
  • Zitierfähig
  • Teilbar (in mehrere Einzelteile)
  • Intertextuell
  • Thematisch vielschichtig

Obwohl Eco einige sehr spezifische Kriterien für Kulttexte ausmacht, man könnte es glatt eine Formel nennen, war er stets skeptisch in Bezug auf bewusst nach solchen Kriterien designten Geschichten. Eco meinte, dass ein Kulttext durch Zufall zum Kultobjekt werde. Kalkül stehe dem im Wege.

Sind Kulttexte wirklich bloß Zufall?

Doch in den 70er-Jahren feierte ein Kultobjekt Premiere, das diese These zu widerlegen scheint: Star Wars. Star Wars ist eins der größten Franchises aller Zeiten, mit etlichen Tie-In[1]-Medien wie Büchern, Computerspielen und TV-Serien. Außerdem hat Star Wars eine der treuesten Fangemeinden überhaupt. Die ergebensten Star-Wars-Fans konsumieren nicht nur all diese Medien, sie erschaffen auch ihren eigenen Content, Fanfiction-Bücher, -Filme oder -Kunst. War all dies ein Streich des Schicksals? Ein zufälliger genialer Einfall von George Lucas, der einfach den richtigen Nerv getroffen hat? Womöglich. Aber darüber hinaus war Star Wars auch geschickt konstruiert, nach einer Formel, die seither zahlreichen Franchises gigantische Fangemeinden gesichert hat.

Die Star-Wars-Formel

George Lucas stieß in den 70er-Jahren auf die Arbeiten des Anthropologen Joseph Campbell, der Coming-of-Age-Storys in verschiedenen Kulturen studiert hatte. Die Ähnlichkeiten waren verblüffend. Lucas nutzte dieses Template, um Star Wars zu entwickeln.

Dass die Haupt-Charaktere mythischen Archetypen entsprechen und die Geschichte auch ansonsten zahlreiche Elemente beliebter Sagen und Geschichten entlehnt, ist daher kein Zufall. Ich sage nicht, dass das etwas Schlechtes ist oder dass das die Geschichte schlechter macht. Ich sage nur, dass die Zitierfähigkeit und das Kult-Potenzial von Star Wars nicht von Ungefähr kam.

Keine Angst vor komplexen Geschichten

Seit Eco und Star Wars haben sich in den Mega-Franchises mit ausgeprägtem Fandom in den vergangenen Jahren noch einige weitere Gemeinsamkeiten herauskristallisiert. 

Franchises wie Game of Thrones oder das Marvel-Universum sind ungemein komplex. Dieser Punkt entspricht im Grunde Ecos Theorie, dass Kulttexte extrem viele Informationen und Themen beinhalten müssten. 

Es ist nicht allzu lange her, da fürchteten sich Medienunternehmen vor komplexen Geschichten wie Game of Thrones. Verpassten die Zuschauer einen kleinen Teil, verstanden sie alles, was danach kam, nicht mehr. Produzenten und Autoren nahmen an, dass dies dazu führte, dass weniger Zuschauer einschalteten. Doch das Gegenteil war der Fall.

In Geschichten wie Game of Thrones macht gerade die Komplexität den Reiz aus. Zuschauer oder Leser können auch beim Immer-Wieder-Ansehen noch Neues entdecken. 

Daher: Keine Angst vor komplexen Geschichten! Solange sie kohärent sind, können sie ein echtes Plus für Fans sein.

Die Storyworld ist heute der Pitch

Früher galt eine gute Story als der Schlüssel für Erfolg. Später ein guter Charakter. Heute gilt als Schlüssel eine gute Storyworld, in der etliche großartige Charaktere in vielen verschiedenen Storys erscheinen können.

Ich will damit nicht behaupten, dass eine gute Story und gute Charaktere nicht wichtig sind. Für den Pitch an wen auch immer, ist eine voll entwickelte Storyworld heutzutage jedoch fast wichtiger. Denn diese bietet das Potenzial, weitaus mehr als nur eine Geschichte mit immer denselben Charakteren zu erzählen. Star Wars funktioniert auch ohne Luke. Nun, zumindest für manche Fans 😉 .

Die Storyworld könnt ihr um beliebige Geschichten und Medien erweitern. Warum nicht ein Tagebuch eines Filmcharakters veröffentlichen? Warum kein Kartenspiel zur TV-Serie?

Wichtig ist, dass nicht alle Teile der Storyworld in jeder Version eines Franchises auftauchen müssen. Es muss aber genug wiederkehrende Motive geben, damit Leser/Zuschauer die Welt auch dann noch erkennen, wenn ihr einige davon weglasst. Ihr braucht, mehr als sonst, einen roten Faden und strenge Regeln an das, was geht und was nicht.

Brecht nicht eure eigenen Regeln

Für diesen roten Faden ist es absolut notwendig, dass ihr euch an eure eigenen Regeln haltet. Wenn es in einem Teil der Geschichte Bäume gibt, die nur bei Mondschein reden können, dürfen sie nicht in der nächsten Geschichte mitten am Tag anfangen, sich über die Hitze zu beschweren. Eure Welt muss kohärent sein. Ohne eine Art Enzyklopädie werdet ihr daher nicht auskommen.

Wissen, Wissen, Wissen

Fangemeinschaften sind Wissensgemeinschaften. Wer seinen Fans also etwas Gutes tun möchte, der verstreut Rätsel in seinen Texten. Anspielungen, Mysterien, Geheimnisse. Fangemeinden können dadurch zusammenarbeiten und mit ihrem kollektiven Wissen zusätzliche Infos ergattern und versteckte Easter-Eggs entdecken.

Daher gehören zur ausgefeilten Storyworld und komplexen Charakteren auch detaillierte Hintergrundgeschichten. Nur wer die Vergangenheit von Welt und Charakteren kennt, kann auch darauf anspielen und den Lesern Rätsel aufgeben. Autorinnen und Autoren wie J.K. Rowling oder J.R.R. Martin haben ganze Geschichtsbücher über ihre Welten und deren Charaktere geschrieben.

Geheimnisse

Ein weiterer wichtiger Punkt sind Geheimnisse. Wer sind die Eltern von Jon Snow, Luke Skywalker oder Rey? Die Antwort auf die Geheimnisse muss offenbar nicht immer toll sein (obwohl das schon besser wäre). Wichtig ist es vor allem, dass Fans etwas bekommen, über das sie rätseln können. 

Wenn ihr aber nur Fragen aufwerft und mit den Antworten durchgehend enttäuscht, könnte es sein, dass ihr irgendwann einen heftigen Shitstorm erntet. 

Welcher Film dies tatsächlich sehr gut hinbekommen hat, ist die Matrix (erster Teil…). Die Wachowskys werfen immer mehr Fragen auf und liefern am Ende Antworten, die besser sind, als die meisten Zuschauer es sich hätten vorstellen können. Die Matrix ist übrigens insgesamt ein weiteres Beispiel für ein gut konstruiertes Kultobjekt.

Intertextualität

Wo wir schon bei der Matrix sind: Intertextualität ist unerlässlich. Wie schon Eco sagte, zitieren Kulttexte aus anderen Kulttexten. Die Matrix ist dafür eins der besten Beispiele. Sie borgt von westlicher Philosophie, östlicher Mythologie, Religion, Antike und und und. Der Film, nein, das ganze Matrix-Universum, ist ein Pastiche vergangener Meisterwerke. Das regt die Diskussion an und führt dazu, dass Zuschauer auch beim 20. Mal sehen, noch Neues entdecken können. Die zahlreichen Referenzen erfordern es geradezu, dass Fans zusammenarbeiten, ihr Wissen austauschen und so die tiefere Bedeutung von Texten ergründen. Ergebene Fans werden belohnt, denn sie verstehen mehr als Personen, die solche Texte nur oberflächlich konsumieren.

Hinter der Intertextualität steckt eine Theorie der Postmoderne: Alles wurde bereits einmal gesagt. Daher kann Neues nur aus einzelnen Teilen des Alten bestehen.

Was sind die Voraussetzungen für Fandom?

Fassen wir zusammen: Was genau sind laut Fandomtheorien die Voraussetzungen dafür, dass sich große Fangemeinschaften bilden?

  • Umfassende Storyworld
  • Hält sich an Regeln der eigenen Storyworld
  • Großes Maß an Informationen
  • Thematisch vielschichtig
  • Zitierfähig
  • Teilbar (in mehrere Einzelteile)
  • Intertextuell
  • Angelehnt an Archetypen
  • Ausgefeilte Vergangenheit von Storyworld und Charakteren
  • Geheimnisse

Gibt es also wirklich ein Rezept für Fandom?

Nun haben wir ein Template entwickelt. Für die nächsten Geschichten müssen wir es also nur noch anwenden und der riesen Fanhype kommt bestimmt. Oder? Oder??

Es wäre schön, wenn es so einfach wäre. Nein, eigentlich wäre das gar nicht schön. Denn würde es wirklich eine Formel für extrem erfolgreiche Geschichten geben, würden wohl in Zukunft alle Texte gleich aussehen. Und wer will das schon?

Ja, es gibt gewisse Grundlagen für extrem erfolgreiche Franchises. Das weiß Hollywood schon lange und daher werden sich die Blockbuster auch immer ähnlicher. Doch was hat all die Beispiele, die ich im Laufe dieses Artikels genannt habe, wirklich so bemerkenswert gemacht? Sie waren eine Mischung aus Alt und Neu, Bekanntem und Innovativem. Und diesen Teil, den überraschenden, kreativen, künstlerischen Teil, den kann euch kein Template abnehmen. Dieser Teil ist und bleibt reine Schreibmagie.


[1] Zum Franchise gehörende Medien, die einen Einstieg in die Welt der Geschichte bieten können.

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